Wir schließen bewusst die Lücken zwischen formaler Theorie und Laborpraxis. In diesem Teil ergänzen wir vier Bausteine, die in vielen Einführungen zu kurz kommen, aber in echten Experimenten ständig gebraucht werden: verallgemeinerte Messungen (POVMs), Quantenkanäle und ihre Darstellungen, Charakterisierung von Zuständen und Geräten (Tomographie, Benchmarking), sowie Quantenkontrolle und Fehler-Mitigation auf heutiger Hardware. Alles wird mit klaren, nachrechenbaren Mini-Rezepten verankert.
1) Verallgemeinerte Messungen: von Projektionen zu POVMs
Bislang haben wir Messungen als Projektoren auf Eigenräume einer Observablen beschrieben (Projektivmessungen). In der Praxis sind Messgeräte aber nicht ideal: sie haben Auflösung, Dunkelzählraten, Sättigung, oder wir wollen absichtlich „weiche“ Fragen stellen. Das führt zu POVMs (Positive Operator-Valued Measures).
Definition. Eine POVM ist eine Menge positiver Operatoren {E_m}
mit Σ_m E_m = 𝟙
. Die Wahrscheinlichkeit für Ergebnis m
in Zustand ρ
ist p(m) = Tr(ρ E_m)
. Projektivmessungen sind Spezialfälle, in denen E_m
Projektoren und paarweise orthogonal sind.
Naimark-Erweiterung (Intuition): Jede POVM lässt sich als Projektivmessung in einem größeren Hilbertraum realisieren: Kopple das System an ein Hilfsqubit (oder -system), führe eine unitäre Wechselwirkung durch, miss dann projektiv im erweiterten Raum. Mathematisch: E_m = K_m† K_m
für geeignete Messoperatoren K_m
(Kraus-Operatoren, siehe unten), die die Messstatistik erzeugen.
Beispiel: „Unschärfer“ Wegdetektor im Doppelspalt. Ein teilweiser Wegdetektor entspricht einer zweielementigen POVM {E_0, E_1}
mit E_0 = (1−η)|L⟩⟨L| + (1−η)|R⟩⟨R|
(kein Klick) und E_1 = η|L⟩⟨L| + η|R⟩⟨R|
(Klick), 0<η<1
. Je größer η
, desto mehr welcher-Weg-Information, desto weniger Interferenz. Du siehst hier präzise, wie „Informationsgewinn“ in Sichtbarkeit bezahlt wird.
2) Quantenkanäle: Dynamik offener Systeme als ganzes Objekt
Reale Geräte koppeln an ihre Umgebung. Die Entwicklung eines Zustandes ρ
ist dann nicht mehr rein unitär, sondern wird durch einen kanal 𝓔
beschrieben: ρ ↦ 𝓔(ρ)
, der komplett positiv und spurtreu ist (CPTP). Drei gleichwertige Darstellungen sind praktisch:
2.1 Kraus-Darstellung
𝓔(ρ) = ∑_k K_k ρ K_k†, mit ∑_k K_k† K_k = 𝟙.
Beispiele.
- Dephasierung (Z-Rauschen):
K_0 = √(1−p) 𝟙
,K_1 = √p Z
. Bloch-Vektor-Komponenten(r_x, r_y, r_z)
gehen auf((1−2p) r_x, (1−2p) r_y, r_z)
. - Amplitude-Damping (Energieverlust):
K_0 = |0⟩⟨0| + √(1−γ) |1⟩⟨1|
,K_1 = √γ |0⟩⟨1|
. Der Südpol (|1⟩) „sackt“ Richtung Nordpol (|0⟩).
2.2 Choi- oder Jamiołkowski-Darstellung
Der Kanal wird einem Zustand im größeren Raum zugeordnet:
J(𝓔) = (𝓔 ⊗ 𝓘)(|Φ⁺⟩⟨Φ⁺|), |Φ⁺⟩ = (|00⟩+|11⟩)/√2.
J(𝓔)
ist positiv semidefinit, und Tr_1 J(𝓔) = 𝟙/d
kodiert Spurerhaltung (d
Dimension). Vorteil: Viele Eigenschaften (z. B. Komposition, Abstand) werden lineare Algebra.
2.3 Superoperator/Pauli-Transfer-Matrix (PTM)
Man projiziert Zustände und Operatoren auf eine Basis (z. B. Paulis {𝟙, X, Y, Z}
) und bekommt eine Matrixdarstellung R
, die den Bloch-Vektor transformiert. Praktisch, wenn du experimentell eine „Gate-Qualität“ als Matrix schätzen willst.
2.4 Zusammensetzen und Invertieren
Kanäle komponieren als Matrizenprodukt (PTM) bzw. als ∑_{j,k} K_j K_k
-Ketten (Kraus). Eine perfekte Inversion existiert nur für unitäre Kanäle. Für Rauschen nutzt man Mitigation (siehe unten) statt echte Inversion.
3) Gerät und Zustand vermessen: Tomographie & Benchmarking
„Man kann nur steuern, was man messen kann.“ Drei Ebenen sind Standard: Zustandstomographie, Prozesstomographie (oder Gate-Set-Tomographie), und Benchmarking (Qualitätskennzahlen ohne vollständige Rekonstruktion).
3.1 Zustandstomographie (Qubit)
Für ein Qubit genügt die Messung von ⟨σ_x⟩, ⟨σ_y⟩, ⟨σ_z⟩
. Dann
ρ = (1/2)(𝟙 + ⟨σ_x⟩ σ_x + ⟨σ_y⟩ σ_y + ⟨σ_z⟩ σ_z).
Mit endlichen Daten nutzt man Maximum-Likelihood-Rekonstruktion (ML): Finde ρ ≥ 0
mit Tr ρ = 1
, die die beobachteten Häufigkeiten am wahrscheinlichsten macht. Für mehr Qubits hilft komprimierte Tomographie (z. B. bei dünn besetzten Zuständen) – man misst klug ausgewählte Pauli-Gruppen.
3.2 Prozess-/Gate-Tomographie
Du präparierst einen Satz Eingangszustände, lässt sie durch das zu vermessende Gate laufen und misst die Ausgänge in mehreren Basen. Daraus rekonstruierst du die Choi-Matrix J(𝓔)
oder eine PTM. Gate-Set-Tomographie (GST) geht weiter: Sie kalibriert konsistent den ganzen Satz aus Vorbereitungen, Messungen und Gates – wichtig, wenn Referenzen selbst fehlerhaft sind.
3.3 Randomized Benchmarking (RB)
RB misst eine mittlere Fehlerwahrscheinlichkeit, robust gegen Tomographie-Bias. Idee: Zufällige Folgen aus Clifford-Gattern, am Ende ein „Rückgatter“, das ideal den Anfangszustand wiederherstellt. Die mittlere Überlebenswahrscheinlichkeit fällt exponential mit der Folienlänge:
F(m) = A p^m + B,
wobei p
den effektiven Ein-Gate-Fehler kodiert. Varianten (interleaved RB, Crosstalk RB) isolieren einzelne Gates und Kopplungsfehler.
4) Fehler-Mitigation auf NISQ-Geräten (ohne echte Korrektur)
Wenn Fehlerkorrektur zu teuer ist, kann man Ergebnisse nachträglich „entrauschen“.
- Zero-Noise Extrapolation (ZNE): Skaliere Rauschen künstlich hoch (z. B. durch „Strecken“ von Pulsen, Einfügen von Identity-Gate-Paaren), miss Erwartungswerte bei verschiedenen Rauschstärken
λ
, extrapoliere zuλ→0
. Mathematisch: Fitf(λ) ≈ f(0) + a λ + …
. - Probabilistic Error Cancellation (PEC): Charakterisiere den Kanal und simuliere eine „inverse“ als stochastische Mischung physisch implementierbarer Operationen. Varianz steigt; Aufwand wächst mit Fehlerstärke – praktikabel für kleine Umfänge.
- Clifford Data Regression (CDR)/Virtual Distillation: Lerne Korrekturen an einfacheren (Clifford-)Schaltungen oder benutze mehrere Kopien des Zustands, um Kohärenzanteile zu verstärken.
5) Quantenkontrolle: von Ziel-Gate zu Pulse-Form
Schaltungen sind abstrakt; reale Geräte sehen Amplituden, Frequenzen, Phasen und Zeitverläufe. Quantenkontrolle optimiert diese Pulse, damit das effektive Gate möglichst nah am Ziel liegt – bei gegebener Bandbreite, Anstiegszeit, Leckagegefahr.
5.1 Modell und Kostenfunktion
Das System folgt Ĥ(t) = Ĥ₀ + ∑_j u_j(t) Ĥ_j
, Steuersignale u_j(t)
. Gesucht: u_j(t)
, sodass die zeitgeordnete Unitär U(T)
nahe einem Ziel U_target
liegt. Kostenfunktion z. B. 𝓙 = 1 − (1/d²)|Tr(U_target† U(T))|²
(Gate-Treue).
5.2 GRAPE (Gradient Ascent Pulse Engineering)
Diskretisiere die Zeit in Scheiben, berechne Vorwärts-/Rückwärts-Propagatoren und damit Gradienten ∂𝓙/∂u_j(t_k)
. Aktualisiere die Pulsamplituden entlang des Gradienten. Vorteile: schnell, gut für mittelgroße Systeme; Nebenbedingungen (Amplitude, Bandbreite) werden als Regularisierung ergänzt.
5.3 Leckagearme Pulse (DRAG-Idee)
Viele Qubits sind schwach anharmonische Oszillatoren; einfache Resonanzpulse erzeugen Leckage in höhere Niveaus. Gegenmittel: additive quadraturverschobene Komponenten („DRAG“), die den unerwünschten Übergang destruktiv interferieren lassen. Resultat: weniger Leckage, schmalere Phasenfehler.
6) Ressourcenrechnungen sauber aufsetzen
Wenn du einen Algorithmus oder ein Experiment planst, notiere früh:
- Observablen (was wird gemessen?) und Schätzgenauigkeit (Fehlerschranken).
- Schaltungstiefe, Schusszahl, Readout-Zeit → Messdauer.
- Rauschmodell (welche Kanäle dominieren?), Mitigation (ZNE/PEC?), Kalibrierzyklen (RB, GST).
- Bei Fehlertoleranz: Distanz
d
, Patch-Fläche, T-Count/-Depth, Fabrik-Throughput.
So erkennst du früh, ob ein Plan im Kohärenzfenster liegt oder ob du die Tiefe reduzieren bzw. Messökonomie verbessern musst.
7) Phasenraumbilder: Wigner, Q und P – was Negativität wirklich heißt
Neben Dichtematrix und Bloch-Vektor sind Quasi-Wahrscheinlichkeiten nützlich, um Nichtklassizität sichtbar zu machen.
- Wigner-Funktion
W(x,p)
: reell, kann negativ sein. Negativität zeigt Interferenz und „Katzen“-Charakter. Zeitentwicklung folgt einer Quanten-Liouvilleschen mit Moyal-Klammern (klassische Poisson-Klammern + ħ-Korrekturen). - Husimi-Q: positiv, geglättete Version (Faltung mit kohärentem Zustand) – gut zur Visualisierung; verliert aber feine Negativitätsstrukturen.
- Glauber–Sudarshan-P: formal eine Darstellung als Mischung kohärenter Zustände; kann hochsingulär werden – ein Marker starker Nichtklassizität.
Bild: Klassik ist eine glatte Hügel-Landschaft; Quanten zeigen „Zebrastreifen“ (Interferenzbänder) im Wigner-Bild.
8) Symmetrien, Erhaltungsgrößen und Auswahlregeln
Wenn [Ĥ, G] = 0
, ist die Erwartung ⟨G⟩
zeitlich konstant (Noether-Idee auf Quantenebene). Symmetrien block-diagonalisieren Hamiltonians und sparen Rechenaufwand (z. B. Parität im Ising-Modell). Auswahlregeln ergeben sich aus Matrixelementen ⟨ψ_m|O|ψ_n⟩
, die wegen Symmetrie genau null sind – nützlich, um erlaubte Übergänge vorauszusagen und unnötige Pulse zu vermeiden.
9) Streuung kurz & knackig: Born-Näherung und Querschnitte
Viele Messungen sind Streuexperimente. In erster Born-Näherung ist die Übergangsamplitude proportional zur Fourier-Transformierten des Potentials: f(𝑘→𝑘') ∝ ⟨𝑘'|V|𝑘⟩
. Die differenzielle Wirkungsquerschnitt ist dσ/dΩ = |f|²
. Dieses Minimalpaket verbindet Wellenfunktionen, messbare Winkelverteilungen und Materialcharakterisierung.
10) Fünf Mini-Rezepte zum Selberrechnen
- POVM-Klassifikation: Gegeben
E_1 = η|0⟩⟨0|
,E_2 = η|1⟩⟨1|
,E_0 = 𝟙 − E_1 − E_2
. Zeige Positivität für0≤η≤1
und bestimmep(m)
für|+⟩
. - Dephasierung als PTM: Schreibe die 4×4-PTM, die
(1, r_x, r_y, r_z)^T
auf(1, (1−2p)r_x, (1−2p)r_y, r_z)
abbildet. - RB-Fit: Simuliere fiktive Daten
F(m)
, passeA, p, B
, lies die mittlere Gate-Fehlerwahrscheinlichkeitr ≈ (1−p)(d−1)/d
(für d=2) aus. - ZNE-Fit: Miss
⟨Z⟩
fürλ∈{1,3,5}
, fitte linear und extrapoliere aufλ=0
. - GRAPE-Gradient: Für Einqubit mit
Ĥ₀ = (ω/2) Z
,Ĥ_x = (1/2) X
und targetR_x(π/2)
über ZeitT
, diskretisiereT
inN
Scheiben, leite die Gradientenformel füru_x(t_k)
her (Vorwärts-/Rückwärtspropagatoren).
11) Kompakte Formelsammlung zum Nachschlagen
POVM: {E_m} ≥ 0, Σ_m E_m = 𝟙, p(m) = Tr(ρ E_m) Kraus: 𝓔(ρ) = Σ_k K_k ρ K_k†, Σ_k K_k† K_k = 𝟙 Choi: J(𝓔) = (𝓔 ⊗ 𝓘)(|Φ⁺⟩⟨Φ⁺|) RB-Decay: F(m) = A p^m + B ZNE (linear): f(λ) ≈ f(0) + a λ → f(0) via Extrapolation Kontrolle: Ĥ(t) = Ĥ₀ + Σ_j u_j(t) Ĥ_j, 𝓙 = 1 − (1/d²)|Tr(U_t† U)|² Wigner: Negativität ⇒ Nichtklassizität (Interferenz) Symmetrie: [Ĥ, G] = 0 ⇒ d⟨G⟩/dt = 0 Born-Näherung: dσ/dΩ = |⟨k'|V|k⟩|² (bis auf Konstante)
12) Mentale Bilder, die die Lücken schließen
- POVMs als Brillenstärken: Eine stärkere Brille (projektiv) zeigt scharf, stört aber stark; eine schwächere (POVM) zeigt weich, schont die Kohärenz.
- Kanäle als Filterkästen: Kraus-Operatoren sind Filtereinsätze; der Choi-Zustand ist die komplette „Klangsignatur“ des Kastens.
- RB als Step-Test: Längere Stufenläufe lassen dich die Reibung (Fehler) sehen, ohne jedes Zahnrad (jedes Gate) zu zerlegen.
- Kontrolle als Wellenreiten: Mit richtig geformten Pulsen surfst du auf Resonanzen, ohne in Seitengassen (Leckage) abzurutschen.
Mit diesen Puzzleteilen bist du für die letzten Bögen gewappnet: In Teil 9i verbinden wir Informatik und Quanten ausdrücklich praxisnah (Datenstrukturen, Oracles, Kompilierung, Speicherlayout, Streaming-Messungen). In Teil 9c bringen wir Quantenchemie auf Rechnerebene zusammen – mit konkreten Reaktionspfaden, Integralen, Mappings und Energie-Kurven zum Selberrechnen. In Teil 9t schalten wir noch einen Gang tiefer: zusammenhängende Darstellung von Pfadintegral, Streutheorie, Many-Body-Methoden und topologischen Phänomenen, so dass die abstrakteren Themen genauso greifbar werden wie die bisherigen.
weiter – 9i zu – 9c ab in – 9t