Zum Abschluss des Niveausprungs tauchen wir in die „Hinterbühne“ der modernen Quantenphysik: Pfadintegrale als alternative Formulierung, Streutheorie und S-Matrix, Renormierung und effektive Theorien, Vielteilchen-Greenfunktionen und lineare Antwort, Entanglement und Tensornetzwerke, topologische Materie (Berry-Krümmung, Chern-Zahl, Anyonen, Majoranas), Quantenphasenübergänge samt Kibble–Zurek-Skalierung sowie nichtgleichgewichtige Keldysh-Formalismen. Jedes Konzept wird bis zur messbaren Signatur geführt und mit greifbaren Bildern verankert.
1) Pfadintegral: Dynamik als Summe über Geschichten
Statt der Schrödingergleichung kann man Zeitentwicklung über Pfade formulieren. Der Propagator eines Teilchens vom Ort x_a
(Zeit 0) nach x_b
(Zeit t) ist formal
K(x_b, t; x_a, 0) = ∫ 𝒟[x(t)] exp{ (i/ħ) S[x] }, S[x] = ∫₀ᵗ dt' L(x,ẋ,t').
Alle Wege tragen bei; benachbarte Pfade mit ähnlicher Wirkung S
interferieren konstruktiv. Im Limes ħ→0
dominiert stationäre Phase → klassische Bahn. Für Felder wird daraus ein Funktionalintegral über Feldkonfigurationen φ(x)
mit Wirkung S[φ]
. Praktisch diskretisiert man die Zeit (Trotterisierung) und lässt die Schrittweite gegen Null gehen – dieselbe Idee steckt hinter digitalen Simulationsschemata.
Imaginäre Zeit: Mit t→−iτ
wird exp(−S_E/ħ)
, S_E
die euklidische Wirkung. Das Funktionalintegral wird zum kanonischen Integral der statistischen Physik mit τ ~ ħ/(k_B T)
. Partitionfunktion Z = ∫ 𝒟[x] e^{−S_E/ħ}
; damit verbindet sich Quantenmechanik mit Thermodynamik und Quantum Monte Carlo.
Erzeugerfunktional: Für ein Feld φ
definiert man Z[J] = ∫ 𝒟φ e^{(i/ħ)(S[φ] + ∫ Jφ)}
. Funktionalableitungen nach der Quelle J
erzeugen Korrelatoren ⟨T φ(x₁)…φ(x_n)⟩
. Das ist die präzise Brücke zu Streuung und linearer Antwort.
2) Streutheorie: T-Matrix, Born-Näherung, optisches Theorem
Streuung wird über asymptotische Ein-/Aus-Zustände und die S-Matrix beschrieben. Die Lippmann–Schwinger-Gleichung verknüpft den gestreuten Zustand mit dem freien Green-Funktional:
|ψ^{(+)}⟩ = |k⟩ + G₀^{(+)} V |ψ^{(+)}⟩, G₀^{(+)} = (E − H₀ + i0⁺)⁻¹.
Die T-Matrix T = V + V G₀^{(+)} V + …
liefert die Streuamplitude. In erster Born-Näherung (schwaches Potential) ist f(k→k') ∝ ⟨k'|V|k⟩
; der differenzielle Querschnitt ist dσ/dΩ = |f|²
. Unitarität der S-Matrix führt zum optischen Theorem: σ_tot ∝ Im f(θ=0)
. Die partielle Wellenanalyse in 3D (Phasenschiebungen δ_l
) macht Resonanzen sichtbar; in 1D ergibt ein Potential „nur“ Reflexion/Transmission, deren Phasen Dispersionsdaten kodieren.
3) Renormierung und effektive Theorien
Feldtheorien zeigen UV-Divergenzen. Ein Cutoff Λ
und Renormierung absorbieren Divergenzen in wenigen Parametern; physikalische Vorhersagen hängen nicht vom unphysikalischen Λ
ab. Die Renormierungsgruppe beschreibt, wie Kopplungen mit der Energieskala μ
„laufen“:
β(g) = μ (dg/dμ).
Beispiele: In der Quanten-Elektrodynamik „schirmt“ Vakuumpolarisation (Kopplung wächst logarithmisch mit Energie), in nichtabelschen Theorien (QCD) sorgt Antischirmung für Asymptotische Freiheit. Niedrigenergetisch gelten effektive Theorien: Hochenergiemoden werden integriert, zurück bleibt eine organisierte Reihe erlaubter Operatoren (nach Symmetrie geordnet) mit laufenden Koeffizienten. Universell bedeutet: Details im UV werden unwichtig, wenn Symmetrien und Relevanzen gleich sind.
4) Vielteilchen-Greenfunktionen: Spektren, Selbstenergie, Antwort
Für Fermionen ist der Zeitordnungs-Greenfunktion
G(x,t; x',t') = −i ⟨ T ψ(x,t) ψ†(x',t') ⟩.
Im Impuls/Frequenzraum enthält G(k,ω)
Pole und Breiten; die Spektralfunktion
A(k,ω) = −(1/π) Im G^R(k,ω)
ist experimentell zugänglich (ARPES, Tunnelspektroskopie). Wechselwirkungen werden in die Selbstenergie Σ(k,ω)
geschrieben; Dyson-Gleichung G⁻¹ = G₀⁻¹ − Σ
. Ein Fermi-Flüssigkeit hat langlebige Quasiteilchen nahe ε_F
(Breite ~ (ω−ε_F)²), während Nicht-Fermi-Regime anomale Exponenten zeigen.
Matsubara/imag. Zeit: Bei endlicher Temperatur nutzt man imaginäre Frequenzen iω_n
; analytische Fortsetzung (iω_n → ω + i0⁺
) liefert retadierte Größen. Für Bosonen analog.
Kubo-Formel (lineare Antwort): Leitfähigkeit, Suszeptibilität, Wärmeleitfähigkeit ergeben sich aus Korrelatoren:
σ(ω) = (1/ iωV ) ∫₀^∞ dt e^{iωt} ⟨[J(t), J(0)]⟩, (Fluktuation–Dissipation).
Die identische Struktur taucht in unseren Fallstudien (Teil 7) als Fourier von Autokorrelationen auf.
5) Entanglement, Area Laws und Tensornetzwerke
Für eine bipartite Aufteilung AB
misst die von-Neumann-Entropie S(ρ_A) = −Tr ρ_A log ρ_A
den Verschränkungsgehalt. In gapped 1D-Systemen gilt ein Area Law: S
saturiert mit Blocklänge; an kritischen Punkten (1D-CFT) wächst
S(L) ≈ (c/3) log L + const,
mit Zentraler Ladung c
. Topologisch geordnete Phasen zeigen eine konstante Korrektur γ
(topologische Entropie). Area Laws motivieren Tensornetzwerke:
- MPS/DMRG (1D): Zustand als Kette kleiner Tensoren; Bond-Dimension
χ
steuert Entanglement. Exzellente Grundzustände, TEBD für Zeitentwicklung. - PEPS (2D): Flächige Analogon; rechnet schwieriger, aber fängt Area Laws in 2D.
- MERA: Multiskalen-Entanglement, natürlich für kritische (skaleninvariante) Systeme.
Tensornetzwerke sind die klassische Gegenwelt zu Quantenrechnern: Wo Area Laws gelten, sind sie effizient; jenseits dessen (hohes Entanglement) kommt die Quantenhardware ins Spiel.
6) Topologische Materie: Berry-Phase, Chern-Zahl, Z₂, Anyonen
Für Blochbänder |u_n(k)⟩
definiert man die Berry-Verbindung und -Krümmung
A_n(k) = i ⟨u_n(k)|∇_k u_n(k)⟩, Ω_n(k) = ∇_k × A_n(k).
Die Chern-Zahl eines 2D-Bandes ist
C_n = (1/2π) ∫_{BZ} d²k Ω_n(k) ∈ ℤ,
und bestimmt die Hall-Leitfähigkeit σ_xy = (e²/h) ∑_{n∈occ} C_n
. Zeitumkehr-invariante Isolatoren haben eine Z₂-Topologie (Kane–Mele-Invariante), die geschützte Spinkantenzustände trägt. Bulk–Boundary: Topologische Invariante im Bulk → robuste Randmoden.
Kitaev-Kette (1D p-Wellen-Supraleiter):
H = −μ ∑ c_i† c_i − t ∑ (c_i† c_{i+1} + h.c.) + Δ ∑ (c_i c_{i+1} + h.c.).
Topologische Phase (|μ| < 2t) besitzt Majorana-Nullmoden an den Enden; das Winding-Integral eines effektiven Vektors im (k-Raum) liefert die Invariante. Majoranas sind Bausteine nichtabelscher Anyonen (in 2D), deren Verflechtungsstatistik (Braiding) unitäre Operationen implementiert – Grundlage topologischer Quanteninformation.
Anyons: In 2D kann der Austausch zweier Quasiteilchen eine beliebige Phase e^{iθ}
erzeugen (abelsch); nichtabelsche Anyonen transformieren Zustände in einem degenerierten Raum (Matrizen statt Phasen). Braiding = robuste Gatter; Messungen lesen Gesamt-Topologie (Fusion) aus.
7) Quantenphasenübergänge, Skalen, Kibble–Zurek
Ein Quantenphasenübergang wird bei T=0
durch einen Parameter g
getrieben; nahe g_c
divergiert die Korrelationslänge ξ ~ |g−g_c|^{−ν}
, die Lücke skaliert als Δ ~ ξ^{−z}
(dynamischer Exponent z
). Universelle Exponenten (ν,z,…)
hängen nur von Symmetrie, Dimension und Reichweite der Kopplungen ab.
Kibble–Zurek: Fährt man mit Rate v
durch g_c
, „friert“ die Dynamik nahe dem kritischen Punkt ein. Die Defektdichte skaliert als
n_defect ~ v^{ dν/(1+νz) },
in d Dimensionen. Diese Skalenbeziehungen sind präzise Messvorhersagen (Defektzählungen, Domänengrößen) und Testfälle für Quanten- und Analogsimulatoren (z. B. transverses Ising in Ionen- oder Rydberg-Gittern).
8) Nichtgleichgewicht: Keldysh-Kontur und Transport
Außerhalb des Gleichgewichts nutzt man die geschlossene Zeitkontur (Keldysh). Man definiert retadierte/advanced/Keldysh-Greenfunktionen (G^R, G^A, G^K)
, wobei G^K
Besetzungen trägt. Die Dyson-Gleichung wird eine 2×2-Matrixgleichung im Keldysh-Raum. Anwendungen: Pump–Probe-Spektroskopie, Quenches, Transport.
Mesoskopischer Transport (Landauer): Für ein leitendes Quantumkanal-Kontaktpaar ist der lineare Leitwert
G = (e²/h) 𝒯(E_F),
wobei 𝒯
die Transmission bei der Fermi-Energie ist. In topologischen Kanten (Chern-Isolator) ist 𝒯
ganzzahlig robust → Quantisierung von G
.
9) Messung & Dekohärenz tiefer: Lindblad aus Mikrodynamik, Quanten-Trajektorien
Aus einem System–Bad-Hamiltonian H = H_S + H_B + H_{SB}
folgt unter Born–Markov- und (meist) Rotationswellen-Näherung eine Mastergleichung in Lindbladform:
∂ρ/∂t = −(i/ħ)[H_S, ρ] + ∑_k ( L_k ρ L_k† − ½{L_k†L_k, ρ} ).
L_k
sind Sprungoperatoren (Emission, Dephasierung, Sprünge zwischen Niveaus). Pointer-Basen sind Eigenbasen der dominierenden L_k
(robuste, „klassisch“ wirkende Zustände). In der Quanten-Trajektorien-Sicht simuliert man stochastische Wellenfunktionssprünge (Quantum Jumps) oder kontinuierliche Diffusions-Updates (homodyne/unruhiger Messkanal); Ensemblemittel ergibt wieder die Lindblad-Entwicklung. Das verbindet Messbackaction, Zeno-Effekte und kontinuierliche Überwachung mathematisch sauber.
10) Von Theorie zu Plattformen: Hubbard, Kittketten & Simulation
Viele Phänomene sind auf Simulatoren implementiert:
- Hubbard-Modell (
H = −t ∑⟨ij⟩ c_i† c_j + U ∑ n_{i↑} n_{i↓}
): Korrelation, Mott-Isolatoren, d-Wellen-Paarszenarien. Kalte Atome in optischen Gittern realisierent,U
direkt; Zeit-Flug-Bilder messen Korrelatoren. Digital: Fermion→Qubit (JW/BK), Trotter oder LCU für Zeitentwicklung/PEA. - Kitaev-Kette/Spin-Liquids: Rydberg-Arrays mit schaltbaren Blockaden realisieren effektive Ising/Kitaev-Wechselwirkungen; Randmoden/Strings sind als Nichtlokalitäts-Signaturen messbar.
Die in Teil 6 diskutierten Simulationsschemata (Trotter/LCU/Qubitization) sind hier das Arbeitsross; Low-Rank-Zerlegungen und Symmetrien reduzieren massiv die 1-Norm λ
und damit die Tiefe.
11) Mini-Übungen (papierfest)
- Stationäre Phase: Zeige, dass im Pfadintegral die Variation
δS=0
die klassische Euler–Lagrange-Gleichung liefert und exponentielle Phasen um den Sattelpunkt die Gaussian-Fluktuationen kodieren. - Optisches Theorem: Leite aus Unitarität
S†S=1
her, dassσ_tot ∝ Im f(0)
gilt. - Dyson: Zeige für ein skalare Feld, dass
G = (G₀⁻¹ − Σ)⁻¹
folgt, wenn die 1-Teilchen-irreduciblen Diagramme alsΣ
summiert werden. - Area Law → MPS: Begründe, warum ein endlicher Entanglement-Cut-Off (Bond-Dimension
χ
) gapped-1D-Grundzustände effizient beschreibt. - Kibble–Zurek: Führe die Dimensionsanalyse zur Defektdichte ~
v^{dν/(1+νz)}
durch (Einsetzen der Freeze-out-Zeit/-Länge).
12) Kompakte Formelsammlung
Pfadintegral (QM): K = ∫ 𝒟[x] e^{iS/ħ}, S = ∫ L dt Euklidisch/Partition: Z = ∫ 𝒟[x] e^{−S_E/ħ} Lippmann–Schwinger: |ψ^{(+)}⟩ = |k⟩ + G₀^{(+)} V |ψ^{(+)}⟩ Optisches Theorem: σ_tot ∝ Im f(0) Kubo: χ_{AB}(ω) = (i/ħ) ∫₀^∞ dt e^{iωt} ⟨[A(t),B(0)]⟩ Dyson (Fermion): G⁻¹ = G₀⁻¹ − Σ Spektralfunktion: A(k,ω) = −(1/π) Im G^R Berry-Krümmung/Chern: C = (1/2π) ∫_{BZ} Ω d²k Kitaev-Kette: topologisch bei |μ| < 2t (Majorana-Randmoden) Skalen nahe g_c: ξ ~ |g−g_c|^{−ν}, Δ ~ ξ^{−z} Kibble–Zurek: n_defect ~ v^{ dν/(1+νz) } Lindblad: ρ̇ = −(i/ħ)[H,ρ] + Σ (LρL† − ½{L†L,ρ}) Landauer: G = (e²/h) 𝒯(E_F)
13) Mentale Bilder, die die Tiefe tragen
- Pfadintegral = Chor aller Wege: Jeder Tänzer (Pfad) tritt auf; nur Choreografien mit ähnlichem Takt (Phase) bleiben sichtbar.
- Renormierung = Zoom: Beim Herauszoomen ändern sich Farben (Kopplungen); nur grobe Formen (relevante Operatoren) bleiben.
- Greenfunktion = Resonanzscanner: Pole und Breiten sind Peaks und Lebensdauern im Spektrum.
- Topologie = Knoten im Stoff: Solange du nicht schneidest, bleibt der Knoten (Invariante); Kanten tragen die Spuren (Randmoden).
- Keldysh = doppelte Zeitleiste: Vor- und Rücklauf halten Buch über Phasen und Besetzungen im Nichtgleichgewicht.
Mit diesen Werkzeugen kannst du fortgeschrittene Fachliteratur nicht nur lesen, sondern auf konkrete Signaturen und Messgrößen runterbrechen: Welche Korrelatorformel wird experimentell adressiert? Wo sitzt die Topologie im Bulk und wie zeigt sie sich am Rand? Welche Skalen bestimmen Defektmuster im Quench, und wie schätzt man sie vorab? Wie mappt man diese Theorien auf analoge/digitale Simulatoren, inklusive realistischem Rauschmodell? Die theoretische Tiefe ist damit fest verdrahtet mit der praktischen Handhabe auf Geräten, Algorithmen und Spektrometern.